Es gibt Filme, die man nicht vergisst. Martyrs ist einer dieser Filme, die unter die Haut gehen, die einen auch nach dem Abspann noch gebannt und nachdenklich vor dem Fernseher sitzen lassen. Martyrs tut weh – im Kopf mehr als im Magen – und lässt einen lange Zeit nicht mehr los.
Der Film von Pascal Laugier beginnt im Frankreich der 70er Jahre: Ein junges Mädchen rennt eine Straße in einem Industrieviertel entlang. Völlig panisch und vor Angst schreiend, entfernt es sich Meter für Meter vom Ort der Peinigung, deren Ausmaß für den Zuschauer zunächst unklar bleibt. Das junge Mädchen heißt Lucie und wird zu diesem Zeitpunkt bereits seit einem Jahr vermisst. Obwohl die Polizei den Ort der Entführung später ausfindig machen kann, bleiben sowohl Motive als auch Täter verborgen.
Lucie verbringt den Rest ihrer Kindheit in einer psychiatrischen Einrichtung, in der sie Anna kennenlernt. Schon bald verbindet die beiden Mädchen eine unzertrennliche Freundschaft. Doch die scheinbar heile Welt trügt, denn Lucie sinnt auf Rache.
15 Jahre später: Eine Familie sitzt beim Frühstück, es klingelt an der Tür. Als der Vater öffnet, steht Lucie mit einer Schrotflinte vor ihm und drückt ab. Lucie hat ihre Peiniger ausfindig gemacht und rächt sich kompromisslos für die in ihrer Kindheit erlittenen Qualen. Doch Lucia ahnt nicht, dass der wahre Schrecken den beiden Frauen noch bevorsteht.
Martyrs schlägt für vergleichbare Filme des Genres vergleichbar leise Töne an. Gerade in der zweiten Hälfte des Films ist die Anzahl der Dialoge auf ein Minimum reduziert. Und es braucht auch keine Worte, um den Schrecken zu transportieren, der den beiden Frauen widerfährt. In kurzen Auf- und Abblenden sieht der Zuschauer das Geschehen und wird in einen Sog aus Angst, Mitgefühl und Trauer gezogen. Martyrs ist der beste Beweis dafür, dass der beste Horror im Kopf stattfindet.
Laugier dosiert die gewaltsamen Szenen sparsam und setzt sie nur dort ein, wo sie der Geschichte um Anna und Lucie dienlich sind. Keine Frage, auch Martyrs hat harte Szenen. Diese Szenen transportieren ihren Schrecken aber nicht über Blut und Splatter, sondern über die psychologische Aspekte. Als Zuschauer erwischt man sich wiederholt bei der Frage: Was wäre, wenn ich in der Lage von Lucie bzw. Anna wäre? Wie muss sich ein Mensch fühlen, der in eine solche Situation gerät?
Die bloße Vorstellung in der Lage der Protagonistinnen zu sein, versetzt den Zuschauer in Angst und Schrecken. Als Zuschauer sitzt man vor dem Fernseher und möchte den beiden Frauen zurufen, dass sie flüchten, dass sie rennen sollen… Selten hat ein Film des Genres den Zuschauer derart in seine Geschichte hineingezogen.
Erwähnenswert ist auch, dass Laugier einen Großteil seines Horrors am helllichten Tag stattfinden lässt und dazu noch in einer Umgebung, die auf den ersten Blick zivilisiert und aufgeschlossen erscheint. Der Akt der Gewalt wird nicht von Hinterwäldlern ausgelöst, sondern durch die gehobene Gesellschaft, die ihre Taten in den vermeintlichen Dienst der Wissenschaft stellt.
Laugier gestaltet das Ende seiner Erzählung bewusst offen und somit bleibt der Zuschauer mit der Frage zurück, was am Ende wirklich passiert ist. Es gibt mehrere Lesarten des Endes, die auch ihre Berechtigung besitzen. Unzweifelhaft ist es eine Stärke von Martyrs, dass das Ende der Deutungshoheit des Zuschauers unterliegt.
Mit Martyrs hat Pascal Laugier ein (Horror-)Drama erschaffen und ist der erste Horrorfilm, der mich wirklich tief berührt und erschüttert hat. Beherrscht von einem Nihilismus, der auch die Wissenschaften infrage stellt, geht Martyrs an die Substanz.
Martyrs erzählt eine intelligente und berührende Geschichte, die im Genre des Horrorfilms neue Maßstäbe setzt. Wer sich selbst starke Nerven attestiert, sollte Martyrs auf jeden Fall gesehen haben. Aber zum Abschluss noch einmal in aller Deutlichkeit: Martyrs ist kein Unterhaltungsfilm, sondern ein schwer zu ertragendes Experiment.