The Walking Dead - Season 01 - Header

Telltale: Darum sind deine Entscheidungen wichtig

Die Spiele von Telltale wurden und werden für ihre Erzählperspektive gelobt. Von einer Revolution des Storytellings wird und wurde vielfach gesprochen. Doch was steckt unter der Haube der Spiele? Und welchen Einfluss kann der Spieler durch seine Entscheidungen wirklich ausüben?

Die Spiele von Telltale werben mit folgendem Slogan:

„This game series adapts to the choices you make. The story is tailored by how you play.“

Als ich das erste Mal The Walking Dead startete, ließ mich diese Nachricht euphorisch zurück. Meine Entscheidungen würden – so das Versprechen – das Universum, in dem ich mich befinde, beeinflussen und die Story in eine neue Bahn lenken. Interaktives Storytelling also – wunderbar! Doch wie frei kann ein Spiel sein, dessen Ende vorherbestimmt ist?

Lange hatte ich als Spieler darauf gewartet, das Spielgeschehen selbst in die Hand nehmen zu können und das Schicksal der Charaktere selbst in die Hand nehmen zu können. Nun könnte ich entscheiden, ob ich ein Good oder ein Bad Guy sein möchte und auch über Leben und Tod richten.

Dieses Prinzip hat mich derart begeistert, dass ich mir auch alle nachfolgenden Spiele von Telltale gekauft habe.

Nachdem ich The Walking Dead and The Wolf Among Us durchgespielt hatte, stand ich vor einem Dilemma. Auf der einen Seite hatte ich mir vorher geschworen, die Spiele jeweils nur einmal durchzuspielen, um meine eigene Geschichte zu kreieren. Auf der anderen Seite wollte ich unbedingt wissen, was ich hätte ändern können. Was wäre passiert, wenn ich Person X anstatt Y gerettet hätte? Und was wäre passiert, wenn ich in The Walking Dead nicht die Vorräte aus dem Auto entwendet hätte?

Diese Fragen ließen mich irgendwann so neugierig werden, dass ich meine vorherigen Vorsätze über Bord warf und beide Spiele ein weiteres Mal durchspielte und an einschneidenden Stellen komplett andere Entscheidungen getroffen habe.

Kenny wird sich daran erinnern. Aber wird er das wirklich? Nein, tut er nicht! Denn wie sich bei einem erneuten Durchspielen herausstellte, haben die vom Spieler getroffenen Entscheidungen kaum Bedeutung. Diese ambitionierten Projekte sind also an ihrem Versprechen gescheitert.

Kein Wunder, dass Telltale dem Spieler nach dem ersten Durchspielen direkt mit der Platin-Trophäe belohnt. Denn somit ist sichergestellt, dass der Großteil der Spielerschaft das Spiel nach Beendigung nicht mehr anfasst und auf die Irrelevanz der Entscheidungen nicht aufmerksam wird.

Ich mag gute Geschichten und kann den Leuten von Telltale auch ein gutes Zeugnis ausstellen. Die Skripte zu The Walking Dead und The Wolf Among Us sind gut geschrieben und spannend. Dennoch muss man sich als Spieler eingestehen, dass die Geschichten von Telltale ebenso linear sind wie die Storylinien von The Last of Us oder Max Payne, abgesehen von einigen Nebenaspekten.

The Wolf Among Us - Season 01 - Header

Auch in The Wolf Among Us sind die vom Spieler getroffenen Entscheidungen nicht wirklich wichtig

Die meisten Entscheidungen bewirken lediglich eine kleine Veränderung in den Dialogen und können Einfluss darauf nehmen, wie andere Charaktere die eigene Figur sehen. Auswirkungen auf den Hauptplot sind jedoch nicht nachzuvollziehen.

The Walking Dead ließ mich glauben, dass ich einzelne Charaktere vor dem Tod bewahren könnte. Nach mehreren Anläufen weiß ich aber nun, dass das Schicksal der Charaktere in Stein gemeißelt ist. Schauen wir uns ein Beispiel in Episode 1: Ein neuer Tag an. Auf der Farm muss man sich entscheiden, ob man Duck oder Shaun retten möchte. Ich entschied mich beim ersten Mal für Duck. Beim zweiten Mal entschied ich mich für Shaun und Duck überlebte trotzdem – im Gegensatz zu Shaun.

Wenig später rettete ich Ben vor einer Horde von Zombies im Glockenturm, sein Tod wurde dadurch jedoch nur verzögert und nicht verhindert. Charaktere werden unabhängig von den eigenen Entscheidungen sterben. Und somit ist es egal, ob ich Doug oder Carley am Ende der ersten Episode wähle, beide werden auf die gleiche Art in der dritten Episode sterben. Einziger Unterschied: Man geht mit einem Charakter durch die Welt, der lediglich ein anderes Skin trägt.

Die Entscheidungsfreiheit ist eine Illusion. The Wolf Among Us ist ein weiteres Indiz dafür. Telltale wird nie müde, die Wichtigkeit von Beziehungen der einzelnen Charaktere untereinander hervorzuheben. Aber wieso soll ich eine Beziehung zu einem Charakter aufbauen, der sich später nicht daran erinnert?

Gut, es gibt Ausnahmen. So versucht Telltale zum Beispiel, die Entscheidungen einzelner Episoden miteinander zu verknüpfen. Das gelingt auch an einigen Stellen, bleibt aber punktuell verankert und am Ende sogar belanglos.

Die zweite Season von The Walking Dead ist das erste Spiel von Telltale, welches mehrere mögliche Enden implementiert hat, was grundsätzlich als Schritt in die richtige Richtung gesehen werden sollte. Und dennoch stellte sich Unzufriedenheit heraus, denn alle im Spiel getroffenen Entscheidungen werden am Ende missachtet. Immerhin greift auch hier die von Telltale beabsichtigte Illusionsfalle. Wenn ich einem Freund erzähle, dass ich am Ende etwas anderes erreicht habe als er, wird diese Tatsache zunächst zwingend auf die vermeintliche Handlungsfreiheit zurückgeführt werden.

Ein realistischer Blick auf den Sachverhalt lässt schnell die Thematik Ressourcen auf den Plan treten. Denn die Programmierung eines Spieles, welches n mögliche Enden und Handlungsmöglichkeiten aufweist, würde die Produktionskosten in unermessliche Höhen treiben. ABER wenn ich mit Entscheidungsfreiheit werbe, müssen die getroffenen Entscheidungen auch Einfluss haben.

Game of Thrones - Entscheidungen Episode 1

Mit Übersichten wie dieser impliziert Telltale, der Spieler könne wirklich Einfluss nehmen

Um noch einmal die Brücke zu einem am Anfang benannten Sachverhalt zu schlagen: Am Ende der ersten Episode steht man vor der Entscheidung, ob man die Vorräte aus dem Auto entwenden soll oder nicht. Die Entscheidung erscheint monumental und droht großen Einfluss auf das weitere Spielgeschehen zu nehmen. Am Ende der fünften Episode wird jedoch klar, dass jede vom Spieler getroffene Entscheidung zum gleichen Ergebnis führen wird.

Wenn man die Vorräte nimmt, wird dieser Diebstahl als Hauptgrund für das Finale angeführt. Nimmt man die Vorräte nicht an sich, wird das Ende lediglich mit einem anderen Dialog eingeleitet.

Das größte Ärgernis stellte sich am Anfang der fünften Episode heraus. Nach reifliche Überlegung entschied ich mich, den Rest des Spiels mit Lee alleine zu bestreiten, bereit für seine persönliche Vendetta. Leider ignoriert das Spiel diese Entscheidung und bringt alle anderen Charaktere zurück ins Spiel. Hatte ich mich nicht bewusst für den Alleingang entschieden?

Telltale verschlüsselt dieses Vorgehen mit einem Screen, der nach jeder Episode angezeigt wird und zeigt, welcher Prozentsatz der Spielerschaft sich an wichtigen Gelenkstellen wie entschieden hat. Damit verstärkt Telltale die Illusion, man hätte Freiheit im Spiel und könne die Geschicke der Figuren frei gestalten.

Doch gerade Lee Everett ist das beste Beispiel dafür, dass der Spieler keine Freiheit hat. Denn egal wie man Lee spielt und wie man sich mit ihm in seinem Umfeld präsentiert, das Ende ist stets das gleiche. So sehr die Spieler das Ende auch verflucht haben: Mass Effect 3 ist ein großartiges Beispiel für den Einfluss des Spielers. Das Verhalten von Shepard hat Bedeutung innerhalb des Spieluniversums, auch wenn das Spiel jemanden daran nicht immer durch Popups erinnert.

Gegenwärtig gibt es nur ein Spiel, welches die Entscheidungen des Spielers fortwährend respektiert, ohne ihm mit einem Game-Over-Screen entgegenzutreten: Heavy Rain.

Im Endeffekt wiegen sogar die Entscheidungen von Spec Ops: The Line schwerer als die von The Walking Dead. Denn Spec Ops gibt dem Spieler die Möglichkeit, eine Entscheidung zu treffen, die der bevorzugten Variante des Entwickler zuwiderläuft. Es zwingt den Spieler nicht zu seinem Ende und das ist die große Kunst des Storytellings.

Aber abseits aller Kritik: Die Spiele von Telltale haben mir schöne Stunden beschert, mich zittern und schaudern und das ein oder andere Mal auch sprachlos werden lassen. Telltale hat Charaktere geschaffen, um deren Schicksal ich mich sorge und Welten kreiert, die mich in sich aufsaugen. Damit hat Telltale Geschichten geschaffen, die einzigartig in der Branche sind. Aber spätestens nach Game of Thrones muss Telltale den Entscheidungen mehr Gewicht verleihen, um auch in Zukunft interessant zu bleiben.

The Walking Dead - Season 01 - Lee und Clementine

Die wirklich entscheidende Frage ist: Welcher Mensch möchte man sein?

Trotz aller Anmerkungen kann man aber folgende Einschränkung gelten lassen: Die Entscheidungen haben keinen Einfluss auf das Ende, aber auf den Weg dorthin. Die Spiele von Telltale sind eine emotionale Reise und auch wenn das Ergebnis das gleiche sein mag, geben die vom Spieler getroffenen Entscheidungen zumindest den Gedanken frei, es hätte einen anderen möglichen Weg gegeben.

Um zum Abschluss noch eine Referenz auf The Walking Dead zu nehmen: Es gibt noch eine andere Lesart der möglichen Spielweisen. Die Entscheidungen, die der Spieler trifft, entscheiden nicht über ein mögliches Ende, sondern darüber was für ein Mensch Lee Everett ist. Lee muss in einer Welt zum Helden werden, die sich seiner Kontrolle entzogen hat und die einzige Entscheidung, die er noch treffen kann und die unter seiner Kontrolle steht, ist die, was für ein Mensch er sein möchte.

Über den Autor

Marco

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Gründer und Autor von screenheroes. Mag gute Geschichten und entwickelt gerne für WordPress.

Comments 2

  1. Ich bin zu 100% Deiner Meinung.

    Gut geschrieben, hervorragende Beispiele und zudem links und rechts über den Tellerrand geschaut – Dein Artikel liest sich top!

    Daumen hoch

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